18. Oktober 2023
Wenn die Kanzel zum Balkon wird (Foto: I. Raupach)
Wenn die Kanzel zum Balkon wird (Foto: I. Raupach)

 

 

17 Uhr „Zwischen Tee und Tatort“:

Es riecht in der Kirche nicht nur nach Tee, sondern der Waffelgeruch steigt gleich in die Nase. Der Gottesdienst wurde gemeinsam vorbereitet vom Kirchenvorstand Groß- und Klein Lengden und Ilona Raupach, er war der dritte dieser Art.

Was unterscheidet diese Art von Gottesdienst von dem, wie man’s kennt?

Nachbar auf dem Balkon (Foto: I. Raupach)
Nachbar auf dem Balkon (Foto: I. Raupach)

Zuerst einmal die Uhrzeit: nicht wie üblich am Sonntagmorgen, sondern eben zwischen Tee und Tatort.

Zweitens gibt es immer ein bestimmtes Thema, das war diesmal „Auge um Auge“. Dieser Spruch ist bei uns zu einem Sprichwort geworden, er stammt aber aus dem Alten Testament. Oft wird er verstanden als Aufruf zur Rache, andere betonen den Gewaltcharakter. Das ist aber ein Missverständnis, denn im Alten Testament sollte dieser Ausspruch mäßigen: Was dort gefordert wird, das war damals der Aufruf, ein Unrecht nicht mit doppelter Münze heimzuzahlen, sondern gewissermaßen nur mit einfacher. Und das war damals schon ein ganz erheblicher Fortschritt. Man sollte in dem Spruch also keinen Aufruf zur Gewalt sehen; eher erscheint er als Dokument, wie sich das Rechtssystem entwickelt hat. Und als Aufruf, es damit nicht bewenden zu lassen, kann man es verstehen, wenn Jesus dann im Neuen Testament fordert, nach einem Schlag auf die eine Backe halte man auch die andere hin.

Die Nachbarn mit dem Hund (Foto: I. Raupach)
Die Nachbarn mit dem Hund (Foto: I. Raupach)

Drittens wird jedes Thema auf ungewohnte Art behandelt. Diesmal war das so: Statt dem üblichen Gottesdienstverlauf gab es eine szenische Lesung für drei Personen, und die ging aus von einer tatsächlichen Begebung. Und dabei war dann die Kanzel keine Kanzel mehr, sondern wahlweise ein Balkon oder der 1. Stock in einem Treppenhaus in Kassel.

Anke und Otto streiten nicht mit Worten, doch sind sie sich unsympathisch, weil der Hund Dreck macht oder machen könnte, weil die Blumenpflege und das Gießverhalten der Beiden nicht unterschiedlicher sein könnten. Das Miteinander ist gestört, weil sie nicht miteinander reden – ob können oder wollen, ist unklar. Nur der Unmut aufeinander in ihren Köpfen scheint sich fast unwiderruflich gefestigt zu haben. In einigen von den Szenen im Gottesdienst konnten die Zwei doch noch einander verstehen, doch in der Realität ist es noch lange nicht soweit.              

Bei Tee und Waffeln  im Anschluss bestätigten viele Anwesende, dass ihnen solche Situationen bekannt sind und wie schwer es manchmal erscheint, aufeinander zuzugehen. Reden hilft.

Anja Wetzel und Martin Müller-Wetzel